Der
Kreisauer Kreis war keine Widerstandsgruppe im
eigentlichen Sinn, denn das Ziel dieses Personenkreises, sofern er sich
überhaupt als Gruppe empfand, bestand nicht darin, den Nazis in
den Arm zu
fallen oder sie gar zu beseitigen, sondern darin, für die Zeit
nach Ende der
nationalsozialistischen Herrschaft ein fertiges Gesellschafts- und
Staatskonzept bereitzuhalten, das die Fehler und Irrungen der Weimarer
Republik und des Nazistaates vermied, um einen schnellen Neuanfang zu
ermöglichen. Erst
1944 wurden engere Kontakte zum aktiven Widerstand geknüpft. Nicht
an den „Endsieg“
zu glauben, davon auszugehen, dass es je ein Ende des
Nationalsozialismus geben
könne, erfüllte allerdings nach den Rechtsauffassungen der
Nationalsozialisten
den Tatbestand des Hochverrats und dessen war sich dieser Kreis
durchaus
bewusst.
Die
Bezeichnung "Kreisauer Kreis" stammt ursprünglich - nach Aussage
Freya
von Moltkes - von Theo Haubach, der sie während eines Verhörs
benutzt haben soll, und wurde dann von den Nationalsozialisten nach
dem Attentat auf Hitler im Juli 1944 für eine Widerstandsgruppe um
Helmuth
James von Moltke verwendet, die sich bereits seit 1938 unorganisiert
aus einem Freundeskreis entwickelte. Dessen Kern hatte sich schon 1928
bei den von Rosenstock-Huessy
organisierten Löwenberger
"Arbeitslagern" kennengelernt (u.a. v. Moltke, Adolf
Reichwein, Horst
v. Einsiedel, Hans (Carl Maria Alfons) Peters, Carl Dietrich von Trotha)
oder bildete sich über berufliche Verbindungen in der Vergangenheit,
wie bei Reichwein, Mierendorff und Haubach, als Mitarbeiter der "Neuen
Blätter für den Sozialismus".
Der
Name "Kreisau" leitet sich ab vom Stammsitz der Familie v. Moltke,
Gut
Kreisau/Schlesien in der Nähe
von Schweidnitz (heute Krzyzowa
/ Swidnica in Polen). Hier trafen sich Pfingsten 1942, im Oktober 1942
und Pfingsten 1943 einige der Beteiligten zu geheimgehaltenen und
als Familientreffen getarnten größeren Tagungen. Im Kreisauer
Kreis fanden sich Persönlichkeiten unterschiedlichster Herkunft und
Berufe zusammen, wie die Juristen und schlesischen Gutsbesitzer v. Moltke
und Peter Yorck von Wartenburg, die sozialdemokratischen Berufspolitiker
Julius Leber, Theo Haubach, Wilhelm Leuschner und Carlo Mierendorff, oder
der Pädagoge Adolf Reichwein.
Die
Mitglieder des Kreises hatten ursprünglich nicht die Absicht, einen
gewaltsamen Umsturz herbeizuführen oder gar ein Attentat auf Hitler
zu unterstützen. Von Putschabsichten in der Armee und später
gewaltsamen Umsturzplänen wußte v. Moltke allerdings seit 1939.
Vielmehr stand am Beginn eine visionäre politische Idee, die auch
den Nationalsozialismus nicht als eine
isolierte deutsche Entwicklung sah, sondern als gesellschaftlichen und
politischen Prozess von abendländischen
Dimensionen, eine Fehlentwicklung, von der man glaubte, sie werde mit
Hilfe der auch läuternden Kräfte des Krieges ihr Ende finden
und zu einer Wende führen müssen. Für diesen "Tag X" habe
man, so die Überzeugung der Kreisauer, fertige Konzepte für neue
staatliche
und gesellschaftliche Ordnungen bereitzuhalten. Moltke hat diese Überzeugungen
früh schriftlich fixiert und im Freundeskreis - seit 1940 gemeinsam
mit Yorck - zur Diskussion gestellt.
Die
Anfänge des Kreisauer Kreises hatten also durchaus eine evolutionäre
Basis, Aktivitäten für einen Zeitpunkt, den man aber nicht selbst
gewaltsam herbeizuführen gedachte bzw. nicht glaubte, ihn herbeiführen
zu müssen. Mit fortschreitend dramatischer werdendender Situation
in Deutschland erhielt diese Basis eine stärker revolutionäre
Prägung, hob sich aber damit
auch deutlich gegen andere Widerstandsgruppen, insbesondere die Gördelergruppe
ab, der es eher darauf ankam, das gegenwärtige Regime in Deutschland
zu stürzen, ohne aber an europäische Umwälzungen der Kreisauer
Visonen zu denken.
Man
kam zusammen, um zu diskutieren, wie Deutschland nach dem erwarteten Ende
des Nazi-Regimes neu verfasst und mit welchen politischen Konzeptionen
es zu regieren sei. Dazu wurden Grundsatzdokumente für einen künftigen
demokratischen, christlich geprägten
Staats- und Gesellschaftsaufbau erarbeitet. Adolf Reichwein war in der
Gruppe als Bildungs-Experte tätig und soll als ein Kandidat für
das Amt eines Kultusministers gesehen worden sein, und auch andere der
Beteiligten hatten ihre speziellen Aufgabenbereiche, für die sie Papiere
entwickelten, die dann in Kreisau verabschiedet wurden.
Am
ersten Kreisauer Treffen, 22.-25.5.1942, zum Thema Kirchliche und
Kulturpolitische Fragen nahmen - neben den Ehepaaren Helmuth von Moltke
und
Peter Yorck
von Wartenburg - Moltkes Schwester Asta, Irene, die Schwester Peter
Yorcks, der Pfarrer Harald
Poelchau, Adolf
Reichwein, der
Jesuit Augustin
Rösch, der Zentrumspolitiker Hans
Lukaschek und Theodor
Steltzer teil, der nicht nur in Kirchenfragen bewandert war, sondern
auch Kontakte zum Norwegischen Widerstand hatte.
Beim
zweiten Treffen vom 16.-18.10. 1942, bei dem es um Verfassungsprobleme
ging, kamen, neben den genannten Familienangehörigen (außer
Asta v. Moltke), der Jesuit Alfred
Delp, Horst von Einsiedel, Eugen
Gerstenmaier, Theo(dor)
Haubach,
Hermann Maaß,
der Jurist und Hochschullehrer Hans Peters und Steltzer zusammen.
Die
dritte Tagung vom 12.-14.6.1943 war die letzte in Kreisau und versammelte
neben dem Ehepaar v. Moltke, Peter, Marion und Irene York, Adam
von Trott zu Solz, Gerstenmaier, Delp, Reichwein,
den Juristen
Paulus
van Husen und von Einsiedel. Darüber hinaus fanden noch drei weitere
Zusammenkünfte zu agrarpolitischen und zu landwirtschaftlichen Fragen
in Groß Behnitz bei Berlin (Landgut von Borsigs - siehe dazu separate Darstellung) und Klein Oels (heute
Olesniczka), auf dem Gut der Yorcks statt.
Es
wäre jedoch sicher falsch, den Kreis lediglich auf jene Persönlichkeiten
zu beschränken, die einmal tatsächlich im Kreisauer "Berghaus"
anwesend waren. Die Kreisauer Treffen, die einerseits, schon alleine aus
Sicherheitsgründen, im Teilnehmerkreis klein gehalten werden mußten,
dienten vor allem der Diskussion in einem Kreis, der aber in jedem Falle
mehr Personen versammeln konnte als die zahlreichen Einzeltreffen und der
Verabschiedung von Papieren, Konzepten und Grundsatzentscheidungen.
Denn spätestens seit 1939 gab es ein enggeknüpftes Netz nahezu täglicher
Gespräche und Treffen in kleinem Kreise, bisweilen nur zu zweit oder
dritt, mit Persönlichkeiten, die an der Arbeit des Kreisauer Kreises
intensiven Anteil hatten, ohne selbst bei den drei Kreisauer Tagungen dabeigewesen
zu sein. Alleine die Briefe von Moltkes die er in Tagebuchform an seine
Frau Freya schrieb, zeigen diese Vielfalt .
Ausgangspunkt waren Gespräche zwischen den Freunden Moltke und York,
aber später bestanden vielfältige Kontakte über ganz Deutschland
bis hin ins Ausland. Zu nennen wären hier: Karl
(Carlo) Mierendorff, der 1943 bei einem Bombenangriff auf Leipzig ums
Leben kam, Julius
Leber, Hans-Bernd
von Haeften, Otto Heinrich von der Gablenz, Eduard Waetjen,Lothar König,
Carl Dietrich und Margrit von Trotha, Gustav Dahrendorf, Ulrich
von Hassell,
Ernst von Borsig, Willi
Brundert, Ludwig Schwamb, Ernst v. Harnack oder der deutsche Generalkonsul
in New York, Otto Kiep,
Wilhelm
Leuschner
, Fritz-Dietlof
von der Schulenburg oder Albrecht
Haushofer.
Es bestanden auch Verbindungen zur Gruppe
Sperr, über Haubach zur Goerdelergruppe und über Leber
und Reichwein zur Widerstandsgruppe
Stauffenberg.
Erst
im Laufe der politischen Entwicklung und der immer unmenschlicher werdenden
Verhältnisse in Deutschland neigte auch v. Moltke stärker zu
der Ansicht, daß einzig der Tod des Diktators, bzw. ein
gewaltsamer Umsturz Aussicht auf einen Neuanfang böte. Es war nunmehr
ein Zeitfaktor hinzugetreten - die Meinung innerhalb der Gruppe dazu war
aber schwankend und nicht einhellig. Vor allem mit der Gruppe um Gördeler
konnte keine Übereinstimmung über Zeitpunkt und Form eines Umsturzes
erzielt werden. Daß im Juni 1944 Reichwein und Leber, die eine eher
anti-marxistische Einstellung hatten, mit Wissen Staufenbergs erste Kontakte
zum kommunistischen Widerstand knüpften, zeigt den Eintritt in eine
neue, kritische Endphase. Moltke war bereits am 18. Januar 1944 verhaftet
worden, als er Kiep vor dessen Verhaftung durch die Gestapo warnte. Vom
Kreisauer Kreis war zu diesem Zeitpunkt jedoch noch nichts bekannt. Die
Gruppe hatte damit
ihren Kopf und Koordinator verloren, eine Rolle, die dann teilweise
von Wartenburg übernahm, der allerdings auch eine stärkere Nähe
zur Gruppe Staufenberg suchte. Nun versuchten die Kreisauer, angesichts
des geplanten Umsturzes den Widerstand auf eine möglichst breite Basis
zu stellen und über die
Kommunisten vor allem die Arbeiterschaft einzubinden. Am ersten,
positiv verlaufenden Kontaktgespräch mit den kommunistischen
Widerstandskämpfern Anton Saefkow, Franz Jacob und Ferdinand
Thomas im Juni 1944, an dem Reichwein und Leber beteiligt waren, nahm ein
Spitzel teil, der diese Aktivitäten an die Gestapo verriet. Am Tage
des zweiten Treffens, am 4. Juli 1944, wurden Reichwein und Leber, sowie
weitere Teilnehmer des ersten Treffens verhaftet, aber erst mit dem Attentat
vom 20. Juli wurden die Verbindungen des Kreisauer Kreises aufgedeckt.
v.
Moltke, Yorck v. Wartenburg, Reichwein, Leber, Haeften, Haubach,
Maaß, v. Trott zu Solz, Delp, Kiep, von der Schulenburg und Leuschner,
von Hassell, sind vom "Volksgerichtshof" zum Tode verurteilt und hingerichtet
worden, wenige, wie Gerstenmaier, Dahrendorf und van Husen, kamen mit
Gefängnisstrafen davon. Auch Peters, Steltzer, Lukaschek, von der
Gablenz, von Trotha, Waetjen und Roesch überlebten, ebenfalls
Horst von Einsiedel, er wurde jedoch 1945 von der sowjetischen Geheimpolizeit
verhaftet und kam im Internierungslager Sachsenhausen 1948 unter ungeklärten
Umständen ums Leben.
Es
kann vermutet werden, daß einige der am Kreisauer Kreis Beteiligten
oder ihm Nahestehenden nur deshalb dem Todesurteil entgehen konnten, weil
der nationalsozialistische Apparat im Zuge des kurz bevorstehenden Zusammenbruchs
nicht mehr in der Lage war, die Zusammenhäge in seinem Sinne deutlich
genug zu erkennen bezw. aller Personen habhaft zu werden.
Gut
Kreisau und das "Berghaus", in dem sich die Kreisauer trafen, sind nach
der politischen Wende in den neunziger Jahren von Polen und Deutschen restauriert
und zu einer internationalen Tagungs- und Jugendbegegnungsstätte
ausgebaut worden. DIE KREISAU-INITIATIVE
BERLIN e.V. , 1989 von Ost- und Westberlinern gegründet, fördert
das Projekt Kreisau ideell und materiell.
Elisabeth
Heidöttig-Shah schreibt in Ihrem Beitrag "Adolf Reichweins Widerstand
im Kreisauer Kreis"
1):
"Weder
die politisch-pädagogischen Vorstellungen Adolf Reichweins noch die
Neugestatungsideen der Kreisauer sind verwirklicht worden. Dennoch haben
ihre Prinzipien nicht an Aktualität verloren. Im Gegenteil, angesichts
eines wieder geeinten Deutschlands haben sie eher an Bedeutung gewonnen.
Hier liegt ein gesamtgesellschaftliches Erbe, das es bewußt zu bewahren
und anzutreten gilt, um eine menschliche Zukunft unseren Kindern zu ermöglichen."
1)
In: Wir sind die lebendige Brücke von gestern zu morgen. S. 149-173,
hier S. 173. Bibl.Daten siehe "Lieferbare Bücher"
Hans-Peter
Thun
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